In die Utopie hinein leben
„In die Utopie hinein leben“ ist 2022 in meinem künstlerischen Leben aufgetaucht und seitdem zu einer Art Nordstern für mich geworden. Es begann mit dem Bild „Das Wort Surrender“ und der damit verbundenen Geschichte.
Das Bild entstand inmitten eines Erschöpfungszustands durch Monate von Nachtschichten vor dem Laptop, in denen ich meine Karriere mit dem Bau eines Online-Shops voranbrachte. In meinem Nacken der Antreiber, es endlich zu schaffen, endlich erfolgreich zu sein, endlich eine Bestätigung für die Richtigkeit meines Weges für mein Umfeld abzuliefern, endlich innerlich nicht mehr zu verzweifeln an dem Übermaß an Anforderungen des Lebens – endlich gedeihen.

Das Wort Surrender, Claudia Pollack, 2022, Acryl auf Leinen, 80 x 100 cm
Dass ich das nicht durch noch mehr Anstrengung erreichen konnte, weil meine Kraft dafür begrenzt und mein Tag nur eine gewisse Anzahl Stunden hat, wurde mir da schon bewusst. Surrender – mich hingeben, den Kampf aufgeben – war das Thema. In dieser Zeit tauchten die Fragen danach, wie ich als Mensch, aber vor allem als Frau leben will und überhaupt kann, in mir auf. Wie kann ich denn in dieser Welt und in diesen Strukturen etwas auf die Beine stellen und mich verwirklichen, ohne gleichzeitig jegliche Gelassenheit, Langsamkeit und den Genuss am Leben und an mir zu verlieren? Es war ein Kampf zwischen Aktion und Vertrauen. Vertrauen, das ich offensichtlich nicht hatte. Und ich erkannte meine persönlichen Umstände in einem noch größeren Bild: Sind nicht irgendwie alle am Kämpfen, am Über-die-eigenen-Grenzen-gehen und sich dabei Verlieren in einem gesellschaftlichen System, das scheinbar nur Wachstum als gerade Linie kennt und würdigt?

Etwas in mir schaut auf das Meer und auf alles andere auch, Claudia Pollack, 2023, acryl auf leinen, 80 x 100 cm
Aber es war nicht der einzige Umstand, der mir diese Fragen vor Augen führte. Zwischen den Geburten meiner Kinder liegen 13 Jahre. Mit 27 gebar ich meine Tochter, als ich 40 war, gebar ich meinen Sohn. Als ich 45 war, begann ich, den immer lauter werdenden Wunsch in mir zu spüren, rauszugehen, mein Ding zu machen, meine geistigen Kinder zu gebären, als Frau wirksamer zu werden in der Welt. Ich erkannte, dass die wichtigste Beziehung in meinem Leben die zu mir und zu diesem endlosen Fluss an Gestaltungslust in mir war. Ich hätte gerne mal eine Weile ohne jegliche Beziehung gelebt. Ich fühlte mich zerrissen zwischen dem Muttersein eines kleinen Kindes und meinem immensen Drang nach Ungebundenheit. Ich hasste die ständige Organisation des Familienalltags und was alles nicht ging. Ich fühlte mich eingesperrt. Und ich weiß, dass ich nicht die einzige Frau bin, die sich im Muttersein so fühlt. Und nicht wenige Männer höchstwahrscheinlich auch. Trotz des Umstandes, dass ich einen Partner habe, der mit mir äußerst fair alles fifty-fifty teilt, habe ich mich so gefühlt. Kann es sein, dass es daran liegt, dass es jede familiäre Zelle in ihren vier Wänden, mit ihren Resourcen, versucht alleine zu schaffen?

Wurzeln, Claudia Pollack, 2023, Acryl auf Leinen, 100 x 120 cm
Und immer mehr Fragen kamen dazu. Ich fragte mich, ob das normal ist, ob das natürlicherweise so gedacht ist. Warum Familien, bis auf Ausnahmen, eigentlich ständig im Stress sind? Warum verliere ich mich, meine Sinnlichkeit, meine Bewusstheit, meine Gelassenheit dabei so sehr? Warum geht's so oft um finanzielle Mittel und um die Frage, wie man alles stemmen kann? Wo finde ich da den Raum, um aus mir heraus zu leben und dabei mein Bestes zu verschenken? Wann kommt die Gelegenheit, um mich wieder zu spüren, diese Fesseln zu sprengen? Wie lange soll das so weitergehen?

Tore, Claudia Pollack, 2023, Acryl auf Leinen, 100 x 120 cm
Und das war noch nicht alles. Ein weiteres Themenfeld schob sich ins Bild, nämlich die Auseinandersetzung damit, wie ich mein Beziehungsleben gestalten will. Für den Großteil meines bisherigen Lebens war ich fokussiert gewesen auf die Männer, mit denen ich jeweils in Beziehung war. Plötzlich fühlte sich mein Wirken in der Welt wichtiger an als meine persönliche Beziehung zu einem Mann, meinem Partner. Irgendwie relativierte sich die Gewichtung und das war beängstigend für mich und meinen Partner. Der Fokus auf Kleinfamilie ergab für mich keinen besonderen Sinn mehr. Es kam mir eher wie ein gesellschaftlich gestaltetes Konstrukt vor, das es ja auch ist. Ich begann zu hinterfragen, ob die nukleare Familie die Konstellation ist, in der ich als Frau, aber auch wir als Menschen am besten gedeihen. In diesem Hinterfragen sah ich, was mir und wahrscheinlich vielen anderen wirklich fehlte: Gemeinschaft- "das Dorf", ein fluktuierendes Feld an gegenseitigem Geben und Nehmen über die Grenzen der eigenen Familie hinaus, Zusammenkommen unter Frauen (und Männern) und damit das Baden in der eigenen Energie, Freiheit von Bedrängnissen durch finanziellen Druck und Freiheit vom Funktionieren, als ob es natürliche Lebensrhythmen wie den weiblichen Zyklus, die Fürsorge für Kinder, das Recht auf Ausruhen nicht gäbe.
Diese Aufzählung ist nicht vollständig und ich wette, Du könntest sie noch gut ergänzen.

Eva - offen und sicher, Claudia Pollack, 2024, acryl auf leinen, 100 x 120 cm
Letztens erst saß ich am Feuer bei einer Geburtstagsfeier und unterhielt mich mit Frauen. Wir kamen ins Gespräch über die Bilder in meinem letztjährigen Kalender, den sie in der Küche der Gastgeberin gesehen hatten. In diesem Gespräch hatten wir das Gefühl, erkannt zu haben, wo genau der Anfangspunkt der Neugestaltung unserer Gesellschaften liegt: im Anerkennen des weiblichen Zyklus.
Wir haben Tampons, Binden, Menstruationstassen, Periodenunterwäsche, Schmerzmittel und ein „Das schaffen wir schon“. Wir funktionieren nach außen hin einfach linear durch, während unserer Blutung. Es wird uns als eine Art lohnenswertes Ziel verkauft, uns doch bloß nicht abhalten zu lassen, von unseren Zielen und Tätigkeiten, während unserer Periode.
Aber was will unser Körper eigentlich, wie ein Baum, der im Herbst die Blätter zur Erde wirft und eben nicht grün austreiben kann? Ausruhen, ein bisschen sterben, um sich neu zu erfinden, und in einigen Tagen von vorn zu beginnen. Das ist eine körperliche wie auch energetische Anstrengung, die der weibliche Körper jeden Monat neu tut. Es ist kein Mangel, es ist ein Geschenk. Es ist eine Tatsache. Es ist eine Feier des Lebens und die Integration des Todes. Es ist Transformation. Auch ohne physische Kinder zu gebären, gebären wir jeden Monat Ideen und Visionen mit der Kraft unserer Blutung. Hast Du schon einmal beobachtet, wie nah Du Deiner Intuition bist während Deiner Zeit der Blutung?

Innere Türen, Claudia Pollack, 2024, Acryl auf Leinen, 100 x 120 cm
Wir unterdrücken diesen Prozess gesamtgesellschaftlich durch hormonelle Verhütung und das Darüberhinweggehen im Alltag. Dein Chef oder Deine Chefin würde Dir wahrscheinlich einen Vogel zeigen, wenn Du zu Hause bleiben möchtest, weil Du Deine Periode hast, meinst Du? Stimmt wahrscheinlich. Bei voller Lohnfortzahlung natürlich, denn Deine Periode zu haben, ist nicht Dein persönlicher Makel oder Deine persönliche Befindlichkeit. Sie ist natürlich, im besten Sinne normal und eine Realität für die Hälfte der Menschen auf unserem Planeten. Was kostet es uns alle, dass wir die Weisheit des weiblichen Zyklus nicht nutzen, weil wir Frauen nicht ruhen lassen? Weil wir selbst als Frauen auch einen Widerstand gegen diese Ruhe haben, weil wir uns innerlich hetzen? Was kostet es uns, das wir uns alle hetzten, innerlich wie äußerlich?

Ein Teil Von, Claudia Pollack, 2024, Acryl auf Leinen, 100 x 120 cm
Jetzt stell Dir mal vor, Frauen würden sich während ihrer Blutung den Raum nehmen, den sie dafür brauchen. Stell Dir vor, sie würden ihn sogar bereitet bekommen. Sie könnten zu Hause bleiben, ihrer Intuition lauschen, Arbeitgeber würden staatlich unterstützt und eine Lohnfortzahlung damit problemlos. Es wäre gesellschaftlich getragen, durch Frauen, Männer und Institutionen. Ich spüre eine Welle der Entspannung durch mich gehen, indem ich das schreibe. Wie geht es Dir damit?
Und befindet sich vielleicht genau an dieser Stelle die Tür zu einer insgesamt gesünderen Gesellschaft, weil nicht nur wir Frauen diese Ruhe brauchen sondern auch die weiblichen Anteile in Männern? Könnte das Heilung sein?

Warten Auf Das Ende Aller Kriege, Claudia Pollack, 2024, Acryl auf Leinen, 50 x 70 cm
In einer Gesellschaft, in der die Periode der Frau diesen Stellenwert wieder erhalten würde, was meinst Du, wie würde sie mit der Natur unserer noch größeren Mutter, mit noch größeren Zyklen umgehen? Schützend? Wertschätzend? Bewahrend? Genau. Und wenn das so wäre, wer würde gegen wen in den Krieg ziehen? Genau. Niemand.
Und da ist er, der im wahrsten Sinne des Wortes rote Faden. Indem das Weibliche die Wertschätzung erfährt, die ihm gebührt, fällt alles wieder an seinen Platz. Weil der weibliche Aspekt in allen und allem seinen Raum einnehmen darf. Auch in Männern, auch in der Gestaltung unserer gesellschaftlichen Strukturen, in der Art, wie wir unseren Kindern begegnen, wie Familien mit Fürsorge bedacht werden, wie Menschen und Staaten miteinander umgehen. Die Periode der Frau ist politisch!

Beschütztes Land, Claudia Pollack, 2025, Acryl auf Leinen, 100 x 120 cm
Jetzt lass uns den Kreis rund machen. „In die Utopie hinein leben“ ist, was ich tue, indem ich diese Erkenntnisse in mein ganz persönliches Leben integriere. Ich fange an, indem ich den momentanen Standard nicht mehr einfach akzeptiere. Ich sage: „Nein, ich will es anders.“ Für mich, für Dich, für uns. So beginne ich, in die Utopie hinein zu leben. Es beginnt mit Mikroentscheidungen. Einmal mehr mich trauen, echt zu sprechen, nein oder ja zu sagen. Einmal mehr nicht schweigen. Einmal mehr zu ruhen trotz aller Hetze. Nein, ich sehe nicht die Notwendigkeit, mehr reinzupassen in Erwartungen und eine Gesellschaft, die das Leben in der Tiefe (noch) nicht ehrt. Ich erzähle es weiter, ich lebe es vor. So mache ich es.
Wie kannst Du es machen, Schwester?